Da ist jemand, der lauscht mit den Augen
„Wie finden Sie alle diese tollen Motive?“, fragt der Journalist. Der Fotograf lächelt und sagt: „Ich bin einfach nur da.“
von Dodo Kresse-WallnerNun, der Fotograf ist sehr bescheiden, als er meint, er wäre „einfach nur da“. Eher ist er „immer auf der Hut“ mit eingeschaltetem Gehirn, frisch durchlüfteten Synapsen, einem wachen, durchdringenden Blick und einem poetischen Herzen. Hüten Sie sich vor der Idee, dass Poesie etwas Kitschiges sei. Was ist Poesie? Eine Einstellung, eine Haltung, eine Kunst? Von allem etwas. Sie ist Gefühl, Intuition, Gewissheit und nimmt die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften mit einer lässigen Geste vorweg. Dass alles mit allem zusammenhängt, dass ein vibrierendes Elektron ganze Galaxien zum Schwingen bringen kann, dass Grenzen eine Einbildung verschreckter Bürger sind – all das wissen die Dichter, schon lange bevor Quantenphysiker jene Entdeckungen machen, die unsere Realitäten ins Taumeln bringen.
Hauchzart sind die Hieroglyphen der Weisheit, eingeritzt in den abblätternden Lack einer alten Blechwand. Wer verstanden hat, dass es nicht darum geht, sie zu entziffern, sondern bloß deren Anwesenheit zu beachten, geht seine Wege in Zukunft heiterer. Im Fadennetz der Nostalgie spannen sich die ins Rechteck eingefassten „Augenblicke“ auf wie kleine Explosionen. Der Putz bröckelt, die Ziegelschicht wird sichtbar: ein Gemälde, das sich selbst malt. Der Fotograf als Zeuge dieses stillen Vorgangs.
Es ist wohl nur auf den ersten Blick der Wortwitz, der das Bild „Verkauf neben Geschäft“ so berührend macht. Dahinter geraten wir in eine Zeitenwelle, die uns in unsere eigene Kind-
heit schwemmt. Plötzlich sitzen wir wieder in der Schulbank, schreiben unsere ersten Zeilen in das orangefarbene Ursus-Heftchen, die Zungenspitze angestrengt zwischen die Lippen gepresst. Nach einem Dreiviertel der Zeile bemerken wir das Ende des Blattes nahen und unsere Buchstaben werden immer schmäler, bis wir die letzten Wörter kaum noch lesbar an den Rand pressen, hoffend, „dass es schon irgendwie passen würde“. So ist jener Schilderschreiber, der das bauchige „G“ einer Hungerkur unterzog und es ans Zettelende drängte, nicht länger ein „Irgendwer“, sondern ein Verbündeter – er verschmilzt mit unserem „inner child“ aufs Lebhafteste und reißt alle Zeiten-grenzen ein wie Papierwände.
Immer wieder der Blick auf die Fassade. Ob sich Fenster-reihen in Schaufenstern spiegeln oder Häuserschatten auf marode Steinwände fallen, der ins Vertrauen gezogene Zuschauer, der sich nun vom Beobachter zum Mitfühlenden wandelt, ist verblüfft über die Doppel- und Dreifachschichtigkeiten der Bilder. Die Schwere, die einen angesichts der schäbigen Fassaden aus den 60er-Jahren befällt, gleitet mit einem Mal von den Schultern, wenn man die dortig angebrachten Schilder „Durstbau“ und „Esshaus“ zu lesen beginnt. Ein Schmunzeln vertreibt das Enghorizontige, Fade und Langweilige.
„Sicha nicht“ – die Inkarnation des Wienerischen: ständig im Widerstand, gleichgültig gegen was, ein orangeroter, dahingebellter Protest auf Beton. Scheinbar inhaltsleer, für jeden Wiener
aber nachvollziehbar und auf alles Mögliche zu beziehen. Es ist ein Justament, ein Trotz, ein „Mia san mia“ – und wahrscheinlich ein Insider-Joke für echte Wiener. Sanfter berührt uns das Wienerische im Bild „Feinkost“. Dieser vergessene Begriff krönt ein Kunststofffenster, das einmal die Eingangstür zum Feinkost-laden war. Ein helles Feld unter dem Fenster blieb als Reminiszenz bestehen. Die dazugehörige Tafel ist nun schwarz verhüllt, als wäre das Geschäft erst vor wenigen Tagen „verstorben“. Keiner macht sich die Mühe, beide Schilder abzumontieren und die Fassade zu streichen. Die Bewohner und die Vorbeischlendernden leben mit dem Gestern. Der Wiener hält das aus. Er weiß, dass alles vergeht, verweht, ist sozusagen „per Du“ mit dem Wegbröckelnden. Rost, rosafarbene Patina auf einem Hydranten, einsame Feuerlöscher, zerschlissene Plakatwände – was im urbanen Verbund nur erbärmlich wirkt, entfaltet in den Werken des Fotografen eine fragile Schönheit und Verzauberung. Behutsam führt er uns an die Stelle, wo wir gewohnte Schönheitsideale fallen lassen dürfen und ins künstlerische Sehen übergehen: der Sand des Vergessens, die Schwärze des Verschwindens, das kalkige Weiß ausgebleichter Knochen, das bleierne Grau eines allzu erfolglosen, namenlosen Alltags – all das in einem Bild, das eine von Zeitspuren übersäte Gegensprechanlage zeigt.
Der Tag bricht an, der Fotograf öffnet die Augen wie jemand anderer die Fensterläden, fest entschlossen, andere mit der Kamera „Sehen“ zu lehren. Er verbrennt heiter das Gestern und formt aus der Asche ein ganz hervorragendes Jetzt. Er schwingt sich von Bild zu Bild, von Gedankenraum zu Gedankenraum wie
ein Vogel auf Futtersuche. Beizeiten kann es lyrisch werden. Etwa auf dem Foto „Lampe mit Raubvögeln“, einem elegisch-urbanen Bild einer Straßenlaterne, deren Äste langgezogene Leuchtkörper in den grauen Himmel strecken, als wären sie bereit, jeden Augenblick mit den Vögeln mitzufliegen. Wer genauer hinsieht, entdeckt einen Stern, der wie aus einer Packung Sternchensuppe gefallen scheint. Da die Bilder allesamt unretuschiert sind, bleibt die reizende Frage: Wo kommt er her?
Durchtauchen durch das Geflirre der Prägungen, das laute Geplärr des Glamours und vorstoßen zum Zentrum der Wahrheiten, die sich verdichten, bis ein klares Bild entsteht – dann den Auslöser drücken. Ein leises Klicken, der Moment ist eingefroren – bereit, mit anderen geteilt zu werden. Ob diese Momente nun ironisch, spaßig, leise, poetisch, absurd oder melancholisch sind, in jedem steckt eine Geschichte, deren Gewicht sich immer mehr steigert, je intensiver wir das Foto betrachten. Am besten mit buddhistischer Gelassenheit, ohne Wertung und – wem es gelingen mag – mit der Toleranz und Güte des Künstlers.
Zu lachen gibt’s genug: zwei schwarze Sockenfüße am Balkon, ein alter Mann mit Stock beim Vienna City Marathon, ein schlafender Geierwächter im Naturhistorischen Museum, ein Kippschalter mit den Hinweis-Pickerln „Tag“ und „Nacht“, als wären alle zu blöd, um zu wissen, wann es Zeit für Licht wird. Ein Weihnachts-Intensivkurs, der am 27. Dezember beginnt, ein nackter David, der sein Gewand der Kleidersammlung gespendet hat. Ein „Einsteiger-Gehirn“ für ein paar Euro. Doch all
dies täuscht uns nicht über die Ernsthaftigkeit des Gesamtwerks hinweg. Die packt uns dann von hinten an, wie der Dieb in der Nacht. Unerwartet und im gleichen Maß sanft wie massiv. Doch, das geht. Etwa bei dem Bild „Hinterhof mit gezeichnetem Haus“. Ein Hinterhof wie viele: Ergebnis des erfolglosen Bemühens, die Trostlosigkeit des Hofes durch ein üppiges Blumenparadies zu überdecken. Ein paar verdorrte Pflanzenreste kümmern in viel zu großen Plastikgefäßen. Eine Teppich-Klopfstange wartet tapfer im Ausgedinge, verdrängt von modernen Staubsaugern mit Ultrasaugleistung. Was fehlt, um diesen Anblick in etwas Schönes zu verkehren? Zeit, Geld, Hartnäckigkeit, Achtsamkeit, Lebenslust, Kreativität und der Glaube, dass alles besser werden könnte. Das ist wohl alles ein bisschen viel verlangt. Was aber schafft ein kindlicher Zugang? Mit krakeligem Kreidezug entsteht ein Haus, aus dessen Schornstein friedliche Wolken steigen. Darüber der Strahlenkranz der Sonne. Was für ein Pflaster, mit dem ein Kind dem Unvermögen der Erwachsenenwelt ein „Alles ist gut“ auf-zukleben versucht. Das Kind sieht ja das Unvermögen der Großen nicht, es verwandelt jeden noch so tristen Fleck der Erde in sein kleines, phantasievolles Reich. Je üppiger sein inneres Seelenleben gedeiht, desto bunter lässt es seine Umgebung wachsen. Kinder sind Meister der Toleranz, was hässliche Plätze angeht. Und Meister in der Verwandlung derselben.
Die Klarheit mancher Bilder durchdringt alle Bollwerke der Seitenblicke-Welt, die irgendwo ihre Feste feiert und längst vergessen hat, wo Anfang und Ende sind. Kein Bild ist gestellt, keine Wirkung gewollt. Immer sehen wir Abbilder der Wirklichkeit. Und gerade diese Ahnung von Echtheit, die uns beim Ansehen
der „Situationen“ befällt, lässt uns innehalten und genauer hinsehen. Da stellen sich unsere Härchen am Unterarm auf, wenn wir den vereinsamten beigefarbenen Fauteuil vor der beigefarbenen Hausfassade sehen. Nicht etwa deshalb, weil ein Fauteuil im Vorgarten nichts zu suchen hätte, sondern aus einem gesunden Verdacht auf eine sirupartige Verdichtung an Spießigkeit und Kleinbürgermoral. Wir glauben über die Wesensstruktur des Biedermanns, der jahrelang in diesem Fernsehsessel seine Lieblingsserie verfolgt hat, Bescheid zu wissen. Woher nehmen wir diese Gewissheit? Vielleicht war er ja doch Pippi Langstrumpfs Trampolin?
Ein zerschelltes Fahrrad, ein Schloss, das neben dem dafür vorgesehenen Platz montiert ist, ein Plastiksessel ohne Sitzfläche, Pfeile, die in falsche Richtungen weisen – die Welt ist voll von Dingen, die keinen Sinn ergeben. Erst mit deren Archivierung durch den Fotografen bemerken wir ihre unglaubliche Häufigkeit. Jeder Buchstabe bricht, jede Ziffer zerfällt zu Sand, im zurückbleibenden Fragment findet der Fotograf den Code zur nächsten Ebene.
Es gibt Menschen, die ihr inneres Lied niemals verlieren. Michael Braun zählt zu ihnen. Die Bilder, die er mit seiner Kamera festhält, werden zu den Notenköpfen seiner ganz persönlichen Partitur.„Das Einzige, was du brauchst, bist DU selbst.“ Ja, das ist eine gute Antwort auf eine nicht gestellte Frage, beschließt der Fotograf, packt seinen Kamerakoffer und verlässt den Raum.